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Vom Loslassen und Auflösen

Vom Loslassen und Auflösen

Gewohnheiten

Einen grossen Prozentsatz unseres Tuns erledigen wir automatisch, ohne darüber nachzudenken. Das Gehirn strebt danach, alles in Routine zu verwandeln. Denn: Denken ist aufwendig.
Routinen helfen dem Gehirn, Energie zu sparen und Risiken zu minimieren. Das ist neurobiologisch sinnvoll, ja überlebenswichtig. Viele Dinge, die in unserem Leben automatisiert ablaufen, helfen, den Alltag zu bewältigen. So müssen wir zum Beispiel nicht überlegen, wie wir die Gabel zum Mund führen, um zu essen oder wie wir die Zähne putzen. Wir müssen auch nicht jedes Mal neu lernen, Fahrrad zu fahren.

Wenn Verhaltensmuster richtig eingesetzt werden, helfen sie uns, das Leben im Fluss zu halten und sparen gleichzeitig Energie. Gewohnheiten entstressen uns und entlasten das Gehirn, so dass wir uns auf andere Dinge konzentrieren können. Wenn wir z.B. im Spielsport eine neue Bewegung erlernen, und diese oft genug wiederholen, wird diese irgendwann so zur Gewohnheit, dass sie automatisiert ist. Dies ist in diesem Zusammenhang essentiell, denn dann können wir uns auf Abläufe fokussieren, die auf dem Spielfeld geschehen und müssen nicht überlegen, wie wir uns technisch korrekt bewegen.

Gewohnheiten sind also von grossem Nutzen, gar lebenswichtig. Sie sind aber auch ein Fluch. Sie können zu festgefahrenen Mustern werden. Darunter leiden wir. Ein körperliches Muster kann z.B. sein, dass wir unter Stress die Kiefer zusammenbeissen. Reagieren wir in einer verbalen Auseinandersetzung immer gleich, ist dies eine geistige Gewohnheit.

Wenn es um Gewohnheiten, Routinen oder um unbewusste Muster geht, sind wir sehr ähnlich wie unsere tierischen Freunde. Hat man jemals mit einem Tier zusammengelebt, kennt man genau die Routinen und Muster, in denen es sich bewegt. Wenn wir unsere lieben oder weniger lieben (ev. sogar zwanghaften) Gewohnheiten unter die Lupe nehmen, merken wir, dass die Unterschiede zwischen Tier und Mensch gar nicht gross sind. Etwas mehr oder etwas weniger: Wir alle sind «Gewohnheitstiere».

Kontraktion als Gewohnheit

Wenn ein Lebewesen unter Stress gerät und Schmerz oder Angst erfährt, zieht es sich zusammen. Diese Kontraktion erfolgt physisch und psychisch. Kontraktion, ausgelöst durch Stress, kann eine sinnvolle, natürliche und automatische Reaktion sein. Wir tun gut daran, möglichst schnell unsere Armmuskeln zu kontrahieren, um unsere Hand von der heissen Herdplatte zurückzuziehen und uns vor weiterem Schaden zu bewahren. In vielen Bereichen schützt diese Reaktion unser Leben.

Es gibt allerdings viele Lebenssituationen, wo wir uns damit aber schaden. Haben wir z.B. beim Skifahren das Gleichgewicht verloren und ziehen uns zusammen und unsere Muskeln versteifen sich, ist der Sturz vorprogrammiert. Die automatische Reaktion ist also kontraproduktiv. Schaffen wir es, einigermassen entspannt zu bleiben wenn wir das Gleichgewicht verlieren, sind die Chancen nicht zu stürzen wesentlich grösser. Die Muskeln können koordinierter zusammenarbeiten und unter Umständen kann die Balance wieder gewonnen werden.

Unnötig, aber bestens bekannt: In einer Auseinandersetzung steigt die Energie nach oben, unser Kopf droht zu platzen, wir können nicht mehr klar denken. In diesem Zustand ist es fast nicht mehr möglich, genug Distanz aufzubringen, um vernünftig und einfühlsam zu reagieren.

Es macht deshalb Sinn, Körper und Geist zu trainieren, damit es zu einer Gegenkonditionierung kommt und wir lernen, uns in schwierigen Situationen zu entspannen, statt zusammenzuziehen.

Druck und Stress – Widerstand

Unser Alltag ist komplex. In unserer «abgesicherten» Welt erfahren wir andauernd Druck und Stress. So Vieles sollten wir erfüllen, so Vielem entsprechen – und dies in einem unglaublich hohen Tempo.  Es fehlt uns an Ruhe und Halt.
Nicht nur unser Alltag, sondern auch wir sind komplex. Die Art und Weise wie wir eine Situation wahrnehmen und interpretieren und wie stark unser Körper und Geist darauf mit Stress reagieren, ist sehr individuell und unsere Reaktionen darauf «hausgemacht».

Oftmals wird etwas als bedrohlich empfunden, nur weil es anders ist, als wir uns gewohnt sind. Wir ziehen uns zusammen, sind unflexibel, haften an und können Dinge und Meinungen nicht loslassen. Es ist ein unglaublich tief sitzendes Muster (Gewohnheit) von vielen Menschen, auf Veränderungen und Druck von aussen, mit Widerstand zu reagieren. Meist sind Körper, Psyche und Emotionen gleichermassen beteiligt. Wir gehen während eines Tagesverlaufs zigmal in Widerstand. Ein Glas ist heruntergefallen und wir ärgern uns: Wir können nichts mehr daran ändern, aber wir können darauf verzichten uns aufzuregen. Denn Widerstand erzeugt Blockaden und Energieverlust und macht viele Menschen körperlich und psychisch krank.

Wir können lernen, mit solchen Mustern zu arbeiten und diese bewusst aufzulösen und damit etwas gegen die Macht negativer Gewohnheiten zu unternehmen.

Auflösen und Loslassen – Entspannung

Um etwas aufzulösen, muss man es auch loslassen können. Oftmals halten wir an alten, bekannten Mustern fest, auch wenn sie weh tun. Es ist manchmal einfacher, in Kontraktion zu bleiben, als sich zu öffnen und den Schmerz auszuhalten, den das Loslassen auslösen würde. Es braucht Mut, Altes wegzulassen und Raum zu schaffen, damit Neues entstehen kann.

Auf dem Weg zur Öffnung und Entspannung können uns verschiedenste Methoden helfen: Meditation, verschiedene Arten von Entspannungsarbeit, wie Feldenkrais, progressive Muskelentspannung, Taiji, Qigong, Yoga und Körpertherapien.

Durch Taiji lernen wir, uns selbst zu regulieren und auf körperlicher und psychischer Ebene Spannungsmuster aufzulösen und loszulassen. Zeit und engagiertes Üben ermöglichen uns, schädigende Gewohnheiten in positive umzuwandeln.

Die Natur von Taiji ist, dass wir nicht mit Druck auf Gegendruck reagieren. Wir lernen, diesen Reflex zu kontrollieren. Durch langsames Üben haben wir Zeit, unseren Körper und Geist genau zu beobachten und so die Eigenwahrnehmung zu vertiefen. Dadurch lernen wir, nicht direkt in Kontraktion zu gehen, sondern gewöhnen uns als erste Reaktion an, uns zu lösen und zu entspannen. Ein Beispiel: Wir geraten beim Stehen auf einem Bein ins Wanken. Statt – wie gewohnt – in Kontraktion zu gehen entspannen wir uns; Balance und Agilität bleiben erhalten. Wir automatisieren eine neue Reaktion, die aus Sicht der Kampfkunst wichtig ist, uns aber gleichzeitig einen entspannteren Alltag ermöglicht.

Im Selbstraining, durchsuchen wir Körper und Geist nach Blockaden und lernen durch beharrliches Üben, diese aufzulösen. Im Partner*innentraining sind wir direkt mit der Kraft unseres Gegenübers konfrontiert. Wir lernen, zuerst nachzugeben und entspannt zu bleiben, statt mit Gegendruck zu reagieren.

Wir üben im Taiji ein Leben lang, möglichst alle unsere Spannungen und festgefahrenen Muster aufzulösen und in allen Situationen in Balance zu bleiben. Taiji ist ein langer, aber fruchtbarer Weg, den es sich zu gehen lohnt, weil sich diese Art von Körperarbeit direkt auf unser Leben übertragen lässt und unsere Lebensqualität immens steigert.

Manchmal ist die Fähigkeit, uns selbst zu regulieren nicht gross genug und wir kommen nicht aus eigener Kraft an tiefsitzende körperliche und geistige Muster heran. Gelegentlich sind wir einfach (noch) nicht bereit, eine Gewohnheit loszulassen oder wir sind «betriebsblind» und vermögen eine Blockade selber gar nicht wahrzunehmen. Deshalb kann es eine grosse Hilfe sein, wenn uns jemand von aussen den Finger auf die «wunden Punkte» legt und aufzeigt, wo Handlungsbedarf ist. Im Taijitraining übernimmt der|die Lehrer*in diese Aufgabe.
Kommen wir in diesem Prozess mit Taiji alleine nicht weiter, ist es empfehlenswert, zusätzliche Methoden anzuwenden. Zum Beispiel Körpertherapie: Durch achtsame Berührung können wir erfahren, wo Spannung sitzt und wie wir diese loslassen und auflösen können.

Kontraktion fühlt sich zusammengezogen, steif und unangenehm an. Wir sind unglücklich und unzufrieden. Wenn wir offen und entspannt sind, kann Lebensenergie fliessen. Es geht uns gut, wir können flexibel reagieren, sind toleranter und können Druck besser standhalten. Jetzt wird Heilung möglich.

(Chen Taiji Bern)