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Ein Leben mit dem Erbe der Tradition

Anfang 2012 hat Alfie Schütz  www.chenstil.com auf Anfrage einer peruanischen Kampfsport-Zeitschrift ein Interview mit Meister Chen Bing geführt.
Im Interview geht es um Chen Bings eigene Taijigeschichte, sein Verhältnis zu seinen Onkeln und was für ein Platz Taiji in der heutigen Gesellschaft einnimmt.

A.S. Man hört und liest immer wieder, dass grosse Meister in früher Kindheit mit dem Training und der Ausbildung einer Kampfsportart angefangen haben. Wie waren Ihre Anfänge? Geschah dies aus eigenem Antrieb oder unter der Verpflichtung der Familientradition?
C.B. Ich war 5 Jahre alt, ernsthaft krank, meine Familie hatte kein Geld und der Arzt konnte es nicht heilen. Tante und Onkel beschlossen, mich in Taiji zu unterrichten. Ich wusste bereits, dass meine Krankheit sehr ernst war und dass meine einzige Chance war, es mit Taiji zu versuchen. Deshalb nahm ich dasTraining sehr ernst.
Später wurde Taiji in unserem Land weit verbreitet, aber nachdem ich wieder gesund war, verlor ich zunächst mein Interesse an Taiji.
 Alles was ich wollte, war, draussen mit meinen Freunden zu spielen. Aber zu diesem Zeitpunkt befand ich mich bereits unter dem Druck der Familie und war gezwungen, jeden Tag zu trainieren. Aber ich war mit meinen Gedanken nicht wirklich bei der Sache.

A.S. Grosse Meister wie Ihre Onkels Chen Xiaowang und Chen Xiaoxing an seiner Seite zu haben ist ein Motiv zur Inspiration und gleichzeitig kann es eine Belastung sein, sich permanent nach deren Vorbild verbessern zu müssen, wie gehen Sie damit um?
C.B. Als ich noch klein war, war mein Onkel sehr streng mit mir. Er verlangte, dass ich jeden Tag ein bestimmtes Trainingspensum erfüllte. Dadurch hatte ich nur noch wenig Zeit, um mit meinen Freunden zu spielen. Wenn ich draussen mit meinen Freunden gespielt hatte, statt Taiji zu üben und zurück nach Hause kam, konnte ich keine Antwort geben auf die Nachfrage meiner Onkel. Damals setzte mich die tägliche Trainingsverprlichtung tatsächlich unter Druck. Als ich grösser wurde, wurde ich auch verantwortungsvoller und mir wurde bewusst, dass mir Taiji immer wichtiger wurde. Meine Freunde konnten mich nicht mehr vom Üben abhalten und Taiji wurde zu meinem neuen, besten Freund. Je mehr ich mit ganzem Herzen bei der Sache war, desto mehr gab mir Taiji und desto grösser wurde wiederum mein Interesse, mich weiter zu entwickeln.
Ausserdem wusste ich von Kindheit an, dass ich das Erbe meiner Familientradition sozusagen auf meinen Schultern trug. Deshalb fühlte ich mich von meinen Onkeln auch nicht mehr länger unter Druck gesetzt, ging ihnen nicht mehr aus dem Weg, sondern ging auf sie zu, um von ihnen zu lernen und mich über Kampfkunst-Erfahrung und deren Verständnis von Taiji auszutauschen. Das hat mir in meiner Entwicklung sehr geholfen. Deshalb denke ich, ich habe grosses Glück, diese beiden grossartigen Onkel zu haben.

A.S. Der Chen Stil ist die Mutter aller Tai-Chi Stile. Was wird unternommen, um dessen Essenz zu bewahren? Ist es wahr, dass, wenn man sich beim Taiji nur auf den therapeutischen Nutzen und körperliche Fitness konzentriert, viel von der Essenz verloren geht? Was meinen Sie dazu?
C.B. In der Vergangenheit war Taiji hauptsächlich die Kunst von Angriff und Verteidigung, aber es hatte auch therapeutischen Nutzen und verbesserte auch die körperliche Fitness. In der heutigen, modernen Zeit, setzen die Menschen den therapeutischen Aspekt und die Fitness an erste Stelle. Das ist die Notwendigkeit unserer Zeit, man sollte das nicht verurteilen. Aber, unter diesen Umständen ist die Frage: wie können wir die traditionelle Essenz erhalten bzw vermeiden, dass sie vollständig verloren geht?
In Chenjiagou, dem Ursprungsort des Taiji, können wir diese Essenz noch bewahren, weil die Kinder hier schon in früher Jungend mit dem Training beginnen. Sie trainieren es, weil sie die Essenz, das Gongfu, die Kunst von Angriff und Verteidigung lieben. Sie halten noch nichts von der meditativen Kultivierung oder dem körperlichen Fitnesstraining. Wenn sie gross geworden sind, haben sie bereits ein hohes Niveau in der Kampfkunst erreicht; später verstehen sie, dass die innere Kultivierung die physische Fitness ebenfalls ein sehr wichtiger Aspekt sind, dem sie sich dann mit viel Hingabe widmen.

A.S. Die «kulturelle Revolution» mit ihren Reformen, Methoden und Verfahren hat versucht, alles zu vernichten was ihr potentiell gefährlich erschien. Die Kampfsportarten sind das Erbe einer Tradition von vielen Jahren und wurden auch betroffen. Haben Ihnen Ihre Onkels und Verwandten Geschichten darüber erzählt? Wie wurde der Chen Style in dieser Entwicklung betroffen?
C.B. Ja, ich habe einige Geschichten über diese Zeit gehört. Tatsächlich wurde auch Taiji von der Kulturrevolution beeinflusst und eingeschränkt. Glücklicherweise hatte das Taiji in Chenjiagou eine über 300-jährige Geschichte und wurde von Generation zu Generation innerhalb der Familie weiterverebt, wie ein Baum mit tiefen Wurzeln und breiter Krone. Sogar während dieser Zeit praktizierte meine Familie Taiji, so wie unsere Vorfahren auch früher sich nie davon hatten abhalten lassen. Selbst nach dieser stürmischen Zeit hatte sich das Taiji in Chenjiagou schnell von allem erholt und entwickelte sich rasch weiter.

A.S. Um ein guter Chen-Pratikant zu sein oder anderen ein gutes Beispiel zu geben, was empfehlen Sie? Was kann man tun, um sich im Taiji immer weiter zu verbessern und zu entwickeln?
C.B. Taijiquan ist eine ganzheitlicher asiatischer Kultivierungsweg. Man muss sich sowohl mit Philosophie und Geist des Taiji, als auch mit dem physischen Training intensiv befassen. Beides gehört untrennbar zusammen. Als erwachsene Taiji Praktizierende müssen wir auch die Philosophie des Taiji verstehen, das wird unseren Lernprozess sehr unterstützen.

A.S. Wie manifestiert sich der Atemrhythmus während der Ausführung der Formen?
C.B. (Die Natur) Natürlichkeit ist die wichtigste Anforderung im Taiji. Deshalb atmet man am besten gemäss dem natürlich entstehenden Atemrhythmus. Wenn man sich beim Üben an korrekte Struktur und Prinzipien hält, dann entsteht von selbst ein natürlicher Atemrhytmus (Man soll sich keinen gekünstelten/erzwungenen Atemrhythmus aufzwingen).

A.S. Wir wünschen uns, dass ein Meister oder Führer solide moralische Werte hat, er sollte transparent und konsequent in Worten und Taten sein, ein Beispiel und Führer…
C.B. Dem stimme ich völlig zu. Diesen Anspruch habe ich auch an mich selbst.

A.S. Wie sehen Sie das und was sollte man tun, wenn dem nicht so ist? War das Verhältnis zu Ihren Onkels ein normales Meister-Schüler-Verhältnis, bzw. wie hatten und haben Sie wirkliche Meister?
C.B. Wenn der Lehrer nicht so ist, macht das auch nichts aus. Man lernt von den guten Seiten, sollte aber auch die Schwächen akzeptieren. Niemand ist perfekt. Man sollte seine eigenen Ansprüche den anderen nicht aufzwingen und man soll vor allem nicht voraussetzen, dass andere sich immer genau so verhalten, wie man selbst es von ihnen erwartet.
Mit meinem Onkel habe ich sowohl ein Verhältnis von Meister zu Meisterschüler, als auch ein ganz normales Verhältnis von Onkel zum Neffen. Offiziell habe ich keinen zweiten Meister, aber das beeinflusst nicht meine Haltung/Angewohnheit , auch von den Qualitäten anderer Leute zu lernen.

A.S. Wenn sie eines Tages nach Peru kommen, was hoffen Sie anzutreffen auf dem Niveau des Chen Taiji in Bezug auf Praxis und Ausbildung? Taiji als Breitensport, hoher technischer Standard, qualifizierte Instruktoren/Meister, Ausführung der Formen auf hohem Niveau? Was ist Ihre Meinung diesbezüglich? Besteht ein Unterschied zwischen einem
Meister und einem «normalen» Lehrer, bzw. würden Sie diesen bitte erklären?
C.B. Was mich am meisten interessiert ist, wieviele Menschen in Peru Taiji kennen. Wieviele Menschen praktizieren Taijiquan? Nur, wenn eine grössere Anzahl an Menschen Taijiquan kennen, werden auch viele Leute Taiji praktizieren. Wenn viele Leute Taiji praktizieren, wird es auch Leute geben, die einen höheren Level erreichen. Wenn viele Leute einen höheren Level erreicht haben, dann werden auch einige davon Meisterschaft erreichen/sich einige zu Meistern entwicklen.
Taiji-Meister sind die sehr wenigen Praktizierenden denen es gelingt, in jedem Gebiet/Bereich des Taijiquan die höchste Stufe (Qualität) zu erreichen. Und ein Taiji-Lehrer/Trainer ist ein Führer, der seine Schüler an das Taiji heranführt und dazu beiträgt, die Kultur des Taiji zu verbreiten.

A.S. Wettbewerb ist gesund weil er uns motiviert, uns zu verbessern und nachzudenken über unsere persönlichen Leistungen im Vergleich mit Anderen. Glauben Sie, mehrere qualifizierte Instruktoren in derselben Stadt oder derselben Region zu haben, wäre ein besserer Antrieb für ein höheres Niveau des Tai-Chi, als wenn nur ein Lehrer ein Monopol hätte? Was ist Ihre Meinung dazu?
C.B. Wenn man ein hohes Allgemeinniveau im Taijiquan erreichen will, braucht man auch sehr gut ausgebildete Lehrer. Wenn in einem Gebiet Bedarf an mehreren Lehrern besteht, dann ist es von Vorteil, wenn es mehrere gut ausgebildete Lehrer in diesem Gebiet gibt. Zu viele Lehrer dagegen wären schlecht für die Wettbewerbssituation, sie würden ein Ungleichgewicht verursachen und es käme zu zu hartem Wettbewerb. Es ist so wie mit dem Taijiquan, es darf nicht zu einer Unausgewogenheit zwischen Yin und Yang kommen.