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Ziran – der Natur ihren Lauf lassen

Der moderne westliche Mensch lebt in einer Welt der Überreizung und des hohen Lebenstempos. Viel zu viele von uns verbringen täglich etliche Stunden vor Bildschirmen, oft beruflich, aber auch freiwillig. Die Sinne sind überwiegend nach aussen gerichtet. Das Qi (Energie) staut sich im oberen Körperbereich – es herrscht ein Übermass an Yang, was zu einem Ungleichgewicht von Körper und Geist führt. Der überaktive Verstand übernimmt das Steuer. Viele fühlen sich rastlos. Alle wollen mehr von allem. Es gibt keine Momente der Ruhe mehr, in denen sich der Verstand beruhigen kann.  

Deshalb fällt es uns zunehmend schwer, in Kontakt mit uns selbst und dem, was unsere grundlegende Natur ist, zu treten. Für viele ist es schwierig, diese in jedem von uns innewohnende, selbst regulierende, natürliche Intelligenz wahrzunehmen und in sie zu vertrauen. Sie versuchen alles zu steuern und befinden sich in einer Welt des endlosen Denkens und in einem Widerstand  gegenüber dem, was ist. In diesem Zustand gibt es keinen Raum, das Leben so fliessen zu lassen, wie es eben fliesst.
 
Wenn der Kontakt zu uns selbst verloren gegangen ist, wird auch die Verbindung zur Natur, ihren Zyklen, sowie zu Tieren und Pflanzen unmöglich. Ein Gefühl der inneren Leere ist da und wir merken, dass uns Tiefe im Leben fehlt. Wir sehnen uns nach Ruhe, Entspannung und dieser intensiven Verbundenheit, von der wir wissen, dass es sie gibt. Daher suchen wir nach Wegen, um sie wieder herzustellen. Um uns zurückzuverbinden, müssen wir ruhig werden. Nur so, können wir uns selbst und andere so wahrnehmen, wie wir wirklich sind, und es entsteht Raum, uns mit allen und allem verbunden zu fühlen.
 
Im folgenden Text werden wir untersuchen, was mit diesem inneren Zustand des natürlichen Seins im Kontext des Daoismus gemeint ist und wie dieser und die damit einhergehende Verbundenheit, nach der wir alle suchen, kultiviert werden kann.

Begriffe aus dem Daoismus: Wuji – Dao- Ziran – Wuwei
Der chinesische Begriff «Wuji» setzt sich aus den Zeichen «wu» was «nichts» oder «leer» bedeutet, und «ji», was «Pol»,  oder «Grenze» heisst, zusammen. Wörtlich bedeutet «Wuji» also «ohne Pol – ohne Grenze». Dies bedeutet im übertragenen Sinne Grenzenlosigkeit»  oder «unendliches Nichts».
«Wuji» beschreibt den Zustand des absoluten Nichts. Es ist das unmanifestierte Potenzial, bevor jegliche Existenz oder Dualität (Yin und Yang) entstanden ist. Es ist die Leere und der ursprüngliche Zustand vor der Schöpfung. Während Taiji die Dynamik der Gegensätze und die Entfaltung der Welt beschreibt, repräsentiert Wuji den ursprünglichen, unveränderlichen Zustand der Einheit und des Nichtseins.

«Dao» wird gewöhnlich durch «Weg» übersetzt und ist das Prinzip, welches allem zugrunde liegt und durch welches sich das Universum und die Welt entfaltet. Es ist das universelle Gesetz, nach dem alles fliesst und die Quelle und Essenz aller Dinge und aller Existenz. Es bedeutet die ewige Bewegung, welche nicht der Zeit unterworfen ist. Die Bewegung, welche eigentlich gar keine Bewegung ist, sondern ein Potenzial, das nicht mit Worten definiert werden kann. In diesem endlosen Werden ist der Mensch in die Prozesse der Natur eingebettet und ein Teil davon.

Das chinesische Wort «Ziran» bedeutet frei übersetzt Natürlichkeit. Die Einzelzeichen des Wortes «Ziran» bedeuten: Zi – «selbst» und ran – «so». «Selbstso» – «Soseiend» – «Von selbst so seiend- Natürliches Sein». «Ziran» bezieht sich auf den Zustand eines Menschen, der in Einklang mit seiner eigenen Natur existiert und mit dem «Dao» und den natürlichen Rhythmen des Universums mitgeht. Dieser Zustand ist von Spontaneität und Natürlichkeit geprägt.

Der chinesische Begriff «Wuwei» bedeutet wörtlich «Nicht-Handeln» oder «Nicht-Eingreifen».
«Wuwei» steht für die Handlungen eines Menschen. Kann er sich den natürlichen Prozessen anpassen und mit dem Fluss des «Dao» gehen, anstatt sich dagegen zu sträuben. «Wuwei» erfordert, dass man nicht gegen die natürliche Ordnung der Dinge agiert, sondern die Dinge auf ihre natürliche Weise geschehen lässt.

«Ziran» ist der natürliche Zustand in dem Dinge so angenommen werden können, wie sie sind, während «Wuwei» dafür steht, wie der Mensch seine Handlungen gestaltet, ohne die natürliche Ordnung zu stören. Das endlose Werden (Dao) fliesst am besten und ungehindert, wenn wir uns in unserem natürlichen Zustand (Ziran) befinden. Nur dann können wir unsere Handlungen entsprechend gestalten und  annehmen, ohne einzugreifen (Wuwei).

Anhaften – Wegstossen & Aufgeben
«der mönsch folgt dr ärde
d ärde folgt am himel
der chünig em wäg
u der wäg nimmt sy wäg»
(1*)

Dass der Weg einfach so seinen Weg nimmt, bereitet den Menschen Schwierigkeiten. Dauernd versuchen sie in den Lauf der Dinge einzugreifen. Dinge und Zustände, die sie wollen, sollen vermehrt werden und die anderen stossen sie von sich weg. Dies erzeugt entweder eine Anhaftung und Sehnsucht nach mehr, oder aber Angst vor dem, von welchem sie auf keinen Fall mehr wollen. Diese Prozesse laufen in den meisten Menschen unbewusst ab, hinterlassen aber tiefe Spuren: Ängste, Depression, Rastlosigkeit, Unzufriedenheit etc. Sie verursachen den Hauptanteil des menschlichen Leidens, welches nicht direkt auf physischen Krankheiten, oder auf einem Mangel an Notwendigem, welches wir zum Überleben brauchen, zurückzuführen ist.

Die höchste Meditation ist, da zu sein mit dem was ist und einem ruhigen Herzen. Das Dao kann nicht verändert werden. Es ist aber möglich, Akzeptanz zu lernen, dass gewisse Dinge so sind wie sie sind, auch wenn es anders vielleicht besser wäre. Ergibt man sich in das was ist, nachdem das verändert wurde, was wirklich verändert werden kann und verliert man nicht Energie mit endlosen Gedanken über die Dinge, die sich nicht ändern lassen, wird der Geist ruhig und klar, der Körper entspannt sich. In diesem Zustand, können aufkommende Gedanken, Emotionen und körperliche Blockaden erkannt und erspürt werden. Danach kann geübt werden, mit ihnen zu sein, ohne ihnen unnötiges Gewicht zu geben. Wird alles so gelassen, wie es ist und schaut man dem Geschehen mit ruhigem Herzen zu, löst sich vieles von selbst auf. Das Gleichgewicht der Energien stellt sich wieder ein.

Sich dabei von den Zuständen von Körper und Herz | Geist zu distanzieren im Sinne des Nicht Handelns – «Wuwei» ist zentral. Damit ist nicht gemeint, dass es uns egal ist, was mit uns oder anderen Lebewesen geschieht. Im Gegenteil, das Mitgefühl anderen Lebewesen gegenüber wird sogar grösser, da wir uns nicht ins Drama reinziehen lassen, sondern das Herz offen bleiben kann.

Methoden zur Kultivierung von Ziran
«Ziran», der Zustand des spontanen,  natürlichen und mühelosen Seins ist immer da in uns. Nur können die meisten Menschen ihn nicht mehr wahrnehmen. Es fehlt die innere Ruhe und geistige Klarheit. Zu viele Schichten von Denken und emotionale Blockaden liegen dazwischen.
Für die meisten von uns braucht es Geduld und Zeit in Stille, um die Sensitivität zu entwickeln, die eine verfeinerte Wahrnehmung der Zustände von Körper, Geist und Herz ermöglicht. Es braucht das Richten des Blickes nach innen und Übung, um das natürliche, reine Sosein zu finden und darin zu verweilen.

Deshalb werden oft Techniken zu Hilfe genommen, welche zuerst einmal helfen, den Geist zu beruhigen. Es sind diese oft Methoden, welche die Aufmerksamkeit weg vom Denken und dem Kopf in den Körper (Vipassana Meditation u.a.), in unser Dantian (Taiji, Qigong) oder auf den Atem (Zen Meditation u.a.) lenken.

Taiji als Methode– Ziran als Weg und als Ziel
Im Taiji liegt der Fokus der Aufmerksamkeit auf dem Dantian und dies in aufrechter Position. Es wird geübt, dem Qi über Entspannung, korrekter Haltung und dem Fokus auf das Dantian, auf natürliche Weise den Weg zu breiten, damit es nach unten in unser Zentrum und in unsere Wurzeln fliessen kann.
Das Absinken der Energie hat zur Folge, dass der Geist ruhig und klar wird. Der Körper entspannt sich. Die Atmung erfolgt aus dem Dantian und nicht mehr aus dem Brustbereich. Das Qi kann fliessen. Dies ist unglaublich wertvoll für unsere physische und psychische Gesundheit. All diejenigen, welche schon einmal erfahren haben, wie es ist, wenn das Qi wirklich nach unten fliesst, sich das Dantian füllt und die Füsse verwurzelt sind, so dass das Qi wieder aufsteigen kann und durch den Körper pulsiert, wissen, wie schön und entspannend dies ist. Der Raum ist gegeben für das Sosein, für die entspannte, natürliche Präsenz, dem Ziran.

Der Prozess, des Absenkens des Qi und das Beruhigen des Atems, werden im Taiji nicht willentlich gesteuert, sondern sie sind eine natürliche Folge des korrekten Umsetzens der Taiji Prinzipien. Die Entspannung von Körper und Geist ist dabei zentral. Taiji ist als Methode, zutiefst von diesem daoistischen Begriff der Natürlichkeit geprägt. Die Methode ist Ziran und das Ziel ist Ziran.

«Im Taiji sagt man: « Shen Xin Ziran» – Körper und Herz | Geist sind natürlich. Durch die Ruhe der Bewegung und der Stille des Herz | Geistes sollen die Übenden ihre eigene Natürlichkeit finden und pflegen». (2*)

Leben mit Ziran
In der entspannten Präsenz des Seins, wenn wir uns im Zustand von «Ziran» befinden, erleben wir eine tiefe Verbundenheit mit uns selbst und der Welt. In diesem Zustand öffnet sich unsere Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, und unser Herz wird weit. Wir sind geerdet und stabil, wie ein Baum mit tiefen Wurzeln, selbst wenn das Leben um uns herum stürmisch und unberechenbar ist. «Ziran» ist ein Schlüssel, um im Fluss des Lebens zu bleiben, ohne uns darin zu verlieren. Es erlaubt uns, mit Herausforderungen ruhig und bewusst umzugehen, und schafft Raum für wahres Mitgefühl und wahre Verbundenheit mit anderen Lebewesen.
In dieser zentrierten und authentischen Haltung strahlen wir Ruhe und Präsenz aus, die nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Umgebung harmonisch und positiv beeinflusst.

« wär aber cha, wie die alte*,
z trüebe dür stillhaa
sech sälber la kläre?
u wär cha elei mit der rueh
unrascht i wachstum verwandle?»
(1* | *Mit den Alten sind die alten Weisen gemeint)

Wer hat die Geduld und Beharrlichkeit bis das Trübe sich von selber klärt und sich Rastlosigkeit in Wachstum verwandelt? Wer hat den Mut und das Vertrauen sich dem «Dao» zu übergeben, damit es sich frei entfalten kann?

Es ist eine bewusste Entscheidung, sich Zeit zu nehmen für Ruhe und Stille . Wir können uns spezielle Auszeiten nehmen, wo wir uns der inneren Kultivierung widmen. Es ist unsere Wahl, dies zu einer wichtigen Lebensaufgabe zu machen, den Blick von aussen nach innen zu richten und das Qi ins Dantian abzusenken, damit das Herz ruhig und offen bleiben kann – auch im Alltag.

Quellen:
1* vo wäge Do, Balts Nill
2* https://siegbert-engel.de/wp-content/uploads/2021/06/Ziran-1.pdf

(Chen Taiji Bern)